Als Tourist bekommt man von Japan doch mehr oder weniger nur die Schokoladenseite zu kosten. Da war es eine interessante Erfahrung, einmal die Perspektive eines in Japan lebenden Auslaenders zu hoeren - namentlich Ben aus den USA, bei dem ich in Tokushima um den Schlaf gebracht wurde (naechtliches Philosophieren & Gitarrenunterricht).
Er fuehlt sich einsam, denn wie soll man echte Freunde finden, wenn alle nur mehr oder weniger gleich hoeflich und zuvorkommend sind, ohne ihre wahren Gedanken zu zeigen?
Letztes Wochenende habe ich an einem Esperanto-Jugendtreffen teilgenommen und dort natuerlich viele neue Bekanntschaften gemacht (das wird meinen Aufenthalt in Tokyo praegen!!) Da verstehe ich nun schon ein wenig, was Ben meint. Jugendtreffen in Europa sind irgendwie anders... Vor allem der Abschied war fuer mich in Japan seltsam distanziert. Waehrend ich mich am liebsten jedem in die Arme geworfen haette (=> herzzereissende Abschiedsszenen in Europa), kam von den Japanern nur ein Laecheln und freundliche Worte. Dabei meinte Kako-san mir gegenueber noch, dass Esperanto-sprechende Japaner weniger distanziert seien als "normale" (*g*) Japaner.
Ich schaetze die "japanische" Aufmerksamkeit sehr (Ich finde sie typisch japanisch, auch wenn lange nicht jeder Japaner aufmerksam ist - versteht ihr was ich meine....?). Sie bemerken zum Teil wirklich erstaunlich Kleinigkeiten und lesen einem jeden eventuellen Wunsch aus den Gedanken.
Die Schwierigkeit dabei allerdings: Japaner interpretieren manchmal etwas ZU viel. Wenn ich beim Bummel durch die laute Shopping-Mall sage "In Deutschland habe ich nicht staendig Musik um mich, wie hier in japan", dann meine ich das als kulturwissenschaftliche Feststellung; manch ein Japaner aber wird es vielleicht als Aufforderung (Vorwurf??) verstehen, mich an einen ruhigeren Ort zu fuehren.
Sie haben eben viele Hintergedanken, die sie nicht aussprechen, und glauben, dass das bei mir genauso ist.
Ich habe die Angst, dass ich es nicht bemerke, wenn ich sie stoere, langweile, sonstwie belaestige. Es wird einem ja nicht so gezeigt, und das interpretieren muss ich noch ueben...
Heute habe ich mit Kako-san darueber gesprochen und bei der Gelegenheit haben wir uns versprochen, ehrlich zueinander zu sein - was wir gleich geuebt haben. ;-)
Katido - 22. Aug, 15:00
Hallo Leute, ich lebe noch! Tatsaechlich bin ich jetzt schon stolze drei Wochen in Japan. Das macht sich bemerkbar:
- Ich habe aufgehoert, die zahllosen kleinen Schreine am Strassenrand zu fotografieren. Sind einfach zu viele!
- Mir faellt nicht mehr die Kinnlade runter, wenn ich mitten in der glitzernden 21st-century-Einkaufsmeile ein Maedchen im traditionellen Kimono sehe. (Weiterhin aus dem Haeusschen gerate ich allerdings, wenn diese bunte Gestalt aus verflossenen Jahrhunderten ihr Hightech-Handy zueckt.)
- Ich habe schon lange keine Toilette mehr fotografiert. (Obwohl man nie genau weiss was einen bei den sehr individuellen japanischen Toiletten erwartet, wiederholen sich doch einzelne Elemente.)
- Mein Lieblingsessen ist Kareeraisu (curryreis), Okonomiyaki und Yakisoba.
- Kaum zu glauben, aber wahr: Auch die beruechtigten ueberirdischen Stromkabel fotografiere ich nicht mehr! Faszinierend finde ich sie aber trotzdem noch.
- Ich sage nicht "Aha" sondern "N". Ich aeussere in japanischer Haeufigkeit Laute der Verwunderung, wobei mir nicht selten ein richtig tolles japanisches "Eeeeeeee?" enfleucht. "Aaaaahm" gibts nicht mehr - ich sage und denke "Anoooo...".
- Ich esse Kareeraisu mit dem LOEFFEL!!!!!! (https://helen.twoday.net/stories/885795/main)
Aber bis zum Japaner ist es noch ein weiter Weg fuer mich:
- Noch zeige ich auf meine Brust und nicht auf meine Nasenspitze, wenn ich ueber mich rede, aber: Tendenz gen Nase!
- Im Gegensatz zu den Japanern, die immer und ueberall und selbst im Stehen einschlafen, kann ich im Zug nicht so gut schlafen.
- Reis kann ich mittlerweile richtig gut per Essstaebchen essen, aber bei allem anderen gibts immernoch manchmal kleine Patzer ...
- Ich esse noch immer schluerf-los. Woher kriegen die Japaner nur diese Wahnsinnsgeraeusche?!
Katido - 21. Aug, 16:23
Naaaa, wer weiss wann der Zweite Weltkrieg geendet hat?? Genau, am 15. August! Da hat der japanische Kaiser naemlich mit Haengen und Wuergen (einige militaristische Kreise wollten immer noch nicht aufgeben...) die Kapitulation Japans erklaert. Heute meint nicht nur das Fussvolk, sondern auch einige Politiker, dass sie an diesem historischen Datum den Yasukuni-Schrein besuchen muessten. Dieses umstrittene Heiligtum ist den Seelen der im Krieg gestorbenen Japaner geweiht - inklusive den hingerichteten Kriegsverbrechern! Sehr schwierig.
Die asiatischen Staaten, die unter der japanischen Besatzung das ganze Elend des Krieges erleiden muessen, protestieren natuerlich gegen diesen Brauch. Meine aktuelle Gastfamilie - Mitglied von Amnesty International - ist auch hell entsetzt. In Sachen Aufarbeitung hat Japan noch viel zu lernen. Dieses Jahr ist Praesident Koizumi nicht zum Yasukuni gegangen, dafuer hat er ein doofes Statement abgegeben a la "Japan traegt sooooo viel zum Frieden bei". Dabei gibt es laut meiner Gastfamilie Bestrebungen, Schulbuecher zugunsten dem glorreichen Japan zu aendern und die Verfassung, die eine Armee verbietet, zu aendern. (Ja, Japan hat nur Verteidungskraefte..... die im Augenblick im Irak stationiert sind >.<)
Das war auch ein Punkt, der mir in Hiroshima Bauchweh bereitet hat. Ich will ueber die Berechtigung der Bombe nicht sprechen, das ist mir ein Stueck zu deftig - Tatsache ist jedenfalls, dass die Atombombe entsetzlich war, und Tatsache ist, dass der japanische Krieg entsetzlich war. Ueber letzteres wird wenig gesprochen...
Was kam denn in den deutschen Medien dazu? Wuerde mich mal interessieren.
Immerhin gibt es hier Amnesty International Mitglieder, die sich darueber aufregen und mir bei der Gelegenheit beibringen, was "Luege" auf Japanisch heisst.
Katido - 17. Aug, 09:37
Gestern bin ich in Nara angekommen und wurde sogleich mit einem superleckeren japanischen Abendessen empfangen. Hmmm! Nach Japan werde ich zum Abendessen glaube ich regelmaessig Obst und Gemuese in Massen schnippeln.
Nara selbst war einst die erste Hauptstadt von "Japan" (bzw. dem entstehenden Japan). Nachdem die Stadt diesen Status verloren hatte, kam ihr damals nur noch wenig Bedeutung zu - was ein Glueck ist, denn sonst waere das jahrhundertealte Kulturerbe hier wahrscheinlich gruendlich von all den Kriegen zerstoert worden.
Allerdings sind auch die ganz normalen Braende in den holzlastigen japanischen Staedten sehr gefraessig. Viele der historischen Tempel und Schreine hier sind Rekonstruktionen.
Als ich gestern abend noch ein wenig im Touristenguide stoeberte, fand ich das ganze eigentlich wenig aufregend. Da steht ein dicker Tempel dumm herum und laesst sich von Touristen fotografieren, was kann daran schon so toll sein?
Tatsaechlich aber wurde der heutige Ausflug nach Nara zu einem echten Highlight. Meine Host-Mama hatte naemlich, klug wie sie ist, die "Volunteer Student Guide" Gruppe in Nara kontaktiert. Die schickten mir zwei junge Studentinnen (Englischkenntnisse inklusive), die mir viel erzaehlen konnten, das ich noch nicht wusste. Hier bekam ich auch endlich die Fragen los, die sich bei meinen "einsamen" Besuchen in buddhistischen und shintoistischen Anlagen angesammelt hatten.
Nach diesem touristischen Teil fuehrten mich die beiden noch durch Nara-Machi, einem ruhigen Wohnviertel Naras, in dem noch viele traditionelle Haeuser stehen. Eines davon war auch im Innern als traditionelle Wohnung aufbereitet worden und stand Interessenten als Museum zur Verfuegung, das einen sehr guten Einblick vermittelte. Die kleinen gemuetlichen Haeuschen, die sich um die schmale Strasse draengen, sind typisch japanisch mal mehr modern, mal mehr traditionell, und sind oft liebevoll mit Pflanzen oder im Fall der Laedchen mit Aufschriften verziert. Eine sehr entspannte Atmosphaere ohne all zu viele Touristen, wo man sich gern aufhaelt. Besonders mit zwei suessen japanischen Maedels.
Merke: Volunteer Student Guide ist empfehlenswert!
Katido - 14. Aug, 10:27
Und so werden Staedte in Japan gebaut:
Man nimmt eine Handvoll Quader und setzt sie willkuerlich zusammen, verbunden durch zahlreiche Dachvorspruenge, Winkel, Ecken, Balkoenchen und allem was sonst noch die Fassade aufbricht. Das Ergebnis nennt sich Haus.
Die Bewohner verschoenern diese Dinger gern mit allerlei kleinem Gruenzeug. Ausserdem traegt die Waesche, die draussen vor sich hin trocknet, zur optischen Anarchie bei.
(Foto: Blick auf ein Wohnviertel im verschlafenen Iwakuni)
Eine Handvoll Quaderhaeuser gibt ein Stadtviertel, in dem traditionelle und moderne Architekturelemente jeglicher Art froehlich-chaotisch ineinander verkantet sind.
(Foto: Hiroshima; traditionelles Dach und Baeume wie aus einem klassischen asiatischen Tuschebild in friedlicher Koexistenz mit modernen Kloetzen)
Zusammengehalten wird das ganze durch die ueberirdischen Stromkabel, die sich durch die ganze Stadt ziehen, als waere eine wildgewordene Riesenspinne durch zwischen den Haeusern durchgekrochen...
(Foto: Auch vor dem historischen Viertel von Kurashiki macht die Spinne nicht Halt)
Katido - 13. Aug, 02:06
In Japan gibt's nicht nur ein Herr, Frau, Fraeulein, sondern noch so einige mehr Anreden, die je nach Beziehung angewand werden koennen. Dadurch wird natuerlich der Status der Person, ihr Rang in der Gesellschaftshierarchie gezeigt; oder aber diese typisch japanische Sache beweist, dass man hier auf das Gesellschaftsganze blickt und seinen Platz darin einnimmt (einnehmen muss...); oder aber beides und noch viel mehr...
Bei meinen letzten Hosts (Takamatsu) war ich "Helenchan". Chan ist die Anrede fuer Kinder oder sehr viel juengere Leute (--eine andere Hostfamilie hat auch ihren graduierten Philosophiestudenten-Sohn "Yuu-chan" genannt). Ich habe es auch schon als Kosename unter Freunden gehoert.
Als Helen-chan habe ich mich nicht einfach nur als "Helen aus Deutschland" gefuehlt, ein Auslaender, der hier ein wenig Tourismus betreibt und irgendwie abseits der japanischen Gesellschaft steht (auch wenn ich genau das bin!). Als Helen-chan habe ich mich als quasi integriert gefuehlt, als ein Teil der Gastfamilie und als ein Teil von Japan, wenn auch nur ein sehr kurzlebiger Teil...
Katido - 13. Aug, 01:26